Phineas Gage ist der berühmteste neurologische Patient aller Zeiten. In einem neuen Podcast wird nun auf unterhaltsame Weise die ganze Geschichte erzählt.
Wir befinden uns im Jahr 1848 in der Nähe des Dorfs Cavendish im US-Bundesstaat Vermont. Der Ausbau der Eisenbahn läuft auf Hochtouren. Doch die Arbeit ist oft schwierig. Wie räumte man damals Felsblöcke aus dem Weg, um den Schienen den Weg zu bahnen? Am besten mit Sprengstoff.
Am Nachmittag des 13. Septembers macht der damals 25-jährige Vorarbeiter Phineas Gage einen folgenschweren Fehler: In den Händen hält er die sechs Kilo schwere Eisenstange, mit der er sonst eine Schicht Sand auf das Schwarzpulver für eine Sprengung presst. Für einen Moment ist er abgelenkt.
Wahrscheinlich kommen Eisen und Fels in Kontakt und entsteht so ein Funke. Dieser entzündet das Schwarzpulver, das noch nicht mit Sand abgedeckt ist. Die Explosion schießt die Eisenstange durch seinen Kopf. Wäre sie nicht angespitzt gewesen, hätte ihm die schiere Wucht wohl Schädel und Genick gebrochen. So wird der junge Mann zwar umgeworfen. Doch wenig später steht er wieder auf – blutend und mit einem Loch im Kopf. Er ist bei Bewusstsein und ansprechbar.
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Fakt und Fiktion
Was sich im 19. Jahrhundert niemand vorstellen konnte, ist für uns heute ein historisches Fakt: Phineas Gage überlebt den gravierenden Unfall. Wie ein zweites Wunder muss uns erscheinen, dass ihn auch die schlechten hygienischen Bedingungen der damaligen Zeit nicht dahinraffen. Der einfache Landarzt John M. Harlow (1819-1907), gerade einmal vier Jahre älter als sein Patient, versorgt ihn und rettet ihn auch durch ein gefährliches Fieberkoma.
Das wäre alles schon außergewöhnlich genug, um den Fall interessant für medizinische Geschichtsbücher zu machen. Doch bis in die heutige Zeit fasziniert uns Gages Hirnschaden wegen der (angeblichen) Persönlichkeitsveränderungen, die dadurch entstanden: Viele Forscher behaupten, die Eisenstange habe aus dem vorbildlichen Vorarbeiter eine Art Psychopath gemacht. Eine Verwandlung von Doktor Jekyll zu Mister Hyde.
Ist das aber die ganze Geschichte? Und stimmt sie überhaupt? Oder haben Harlow und andere den Fall so beschrieben, wie es die damals vorherrschende Gehirntheorie, die Phrenologie, erwarten ließ? Und was ist mit alternativen psychologischen Erklärungen, wie zum Beispiel der posttraumatischen Belastungsstörung?
Neuer Podcast
Armin Groh hat den Fall in seinem Podcast „Jahrhundertgeschichten. Der True-Life Podcast“ aufgegriffen und musikalisch untermalt. Erfahren Sie im Gespräch mit mir, ob Gages Persönlichkeit wirklich unwiderruflich durch die Eisenstange zerstört wurde – oder es sich vielmehr um ein Beispiel einer spektakulären Erholung handelt, Stichwort: Neuroplastizität.
Lernen Sie die ganze Geschichte kennen. Und auch die wissenschaftliche Geschichte hinter der Geschichte.
Als Alternative zu Spotify ist die Folge auch auf Apple Podcasts verfügbar.
Hintergründe
Mehr zum Fall und seiner Bedeutung für Psychologie und Hirnforschung können Sie in meinem Buch Wissenschaft und Willensfreiheit (hier beim Verlag oder im Buchhandel erhältlich) nachlesen. Über die Geschichte der Phrenologie und ihre Bedeutung für Hirnforschung und Psychiatrie bis heute erfahren Sie mehr in meinem neuen Buch Perspektiven aus der Depressions-Pandemie.

Erfahren Sie mehr über die „Depressions-Epidemie“ im neuen Buch von Stephan Schleim: Was sind Depressionen überhaupt? Wie werden sie diagnostiziert? Wie veränderte sich das Störungsbild im Laufe der Zeit? Warum wird es in den letzten Jahrzehnten so viel häufiger diagnostiziert und haben sich die Medikamentenverschreibungen verfielfacht? Das Buch kombiniert 27 alte und neue Perspektiven aus Psychologie, Neurowissenschaft und Soziologie mit viel Orientierungswissen zum Verstehen, Vorbeugen und Heilen. Das eBook gibt es für nur 9,99 Euro bei Amazon, Apple Books und Google Play Books.
Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung findet sich in meinen beiden Publikationen:
- Schleim, S. (2012). Brains in context in the neurolaw debate: The examples of free will and “dangerous” brains. International Journal of Law and Psychiatry, 35(2), 104-111.
- Schleim, S. (2022). Neuroscience education begins with good science: Communication about Phineas Gage (1823–1860), one of neurology’s most-famous patients, in scientific articles. Frontiers in Human Neuroscience, 16, 734174.
Abbildung: Nach dem Arzt und Wissenschaftler Henry J. Bigelow, 1850

